Gymnasium Nidda

Aus meiner Hospitation bei Frank am Gymnasium Nidda möchte ich zwei Beispiele herausgreifen, die zeigen, wie ein engagierter Lehrer in einem „normalen“ Gymnasium die Möglichkeiten nutzt, die sich ihm bieten, um kulturelle Bildung zu betreiben, ohne dass sich die Schule explizit das Profil einer Kulturschule in ihr Schulprogramm schreibt.

Beispiel 1: Deutschunterricht in Klasse 11, Grundkurs

Abschlusspräsentation zum Thema Effi Briest von Theodor Fontane, es gab drei Gruppen, die sich in unterschiedlicher Form das Thema zu eigen machten: in Form von darstellendem Spiel, einer komplett durchproduzierten Fernsehshow (produziert im Medienzentrum Gießen) http://medienzentrum-giessen-vogelsberg.de und einer Zeitschrift, die Effi Briest im Look einer „Frauenzeitschrift“ aufgreift.

Alle drei künstlerischen Ansätze zielten darauf ab, Effi Briest in die Gegenwart zu holen. Ich werde exemplarisch über die Zeitschrift schreiben, da ich dort mit meinem eigenen proffessionellen Hintergrund – auch ohne das Projekt und den Verlauf näher zu kennen  – sehr schnell formal und inhaltlich in die Diskussion einsteigen konnte.

Interessant fand ich besonders, wie raffiniert Schüler*innen die differenzierte Geschlechterproblematik aufgriffen, und sowohl inhaltlich als auch bildlich in die Gegenwart transportierten. Die Wahl der Farbigkeit, also in diesem Fall das Weglassen von Farbe, war sicherlich der Produktionstechnik geschuldet, unterstrich aber auch die Ernsthaftigkeit des Themas. Die einzelnen Schüler*innen, die die Beiträge geschrieben hatten, führten eine sehr klare Argumentation für den jeweiligen Teilaspekt des Themas, den sie herausgegriffen hatten.

Eine auffällige Titelmontage, die von einer Schülerin in einer Kombination von einer handwerklich/künstlerisch erstellten Collage und der Weiterbearbeitung in einem Computerprogramm erstellt wurde, überzeugte sowohl durch die Originalität der Idee als auch die Perfektion in der Ausführung. Insgesamt war zu beobachten, wie durch die Abstraktion das Thema an Schärfe gewann und die Schüler*innen viel mehr zu fesseln und zu eigenem Engagement anzuregen vermochte, als eine reine Lektüre mit Diskussion und anschließender Abfrage in einer Klausur dies getan hätte.

Sie haben sich mit dem Thema verbunden und dadurch die Problematik des Stoffes in der Tiefe ganz anders erfasst. Hier zeigt sich sehr deutlich, wie unterstützend die künstlerischen Techniken bei der Bearbeitung von Schulstoff wirken können. Frank gebührt hier als Lehrer besonderer Dank, da ihn die Vorbereitung einer solchen Unterrichtseinheit sicherlich mehr Zeit und Aufwand kostet, als der übliche Frontalunterricht.

Ich wage mal die Behauptung, dass auch ein Lehrer bei einer solchen Arbeit seiner Schüler*innen einen viel höheren Zufriedenheitsquotienten erreicht, als im klassischen Frontal-Unterricht. Und mehr für sich selbst erfahren und mitgenommen haben die Schüler*innen allemal.

Frank selbst schreibt auf seinem lesenswerten Blog Onkel Bos Kulturtagebuch in seinem  Beitrag
Wolfgang Zacharias, Juli Zeh und das Verschwinden der Weltordnung über seine Arbeit als Lehrer folgendes:

 … Ich möchte weg von althergebrachten Beschulungsformen und ausloten, wie Schule in diesem neuen Jahrhundert aussehen sollte. Ich weiß aber noch nicht, wohin das führt. (Das Ausloten in der Seefahrt kann das Auflaufen auf Grund oft nicht verhindern.) …

Unbedingt den ganzen Beitrag lesen hier:

https://onkelboskulturtagebuch.wordpress.com/2017/07/07/wolfgang-zacharias-juli-zeh-und-das-verschwinden-der-weltordnung/

Mittagspause.


Beispiel 2: Schreibwerkstatt ab der 9. Klasse als freiwilliges Angebot vom Lehrer , bei freiwillger Teilnahme der Schüler*innen. Ohne Benotung.
Uhrzeit 13.05-13.55 Uhr, anwesend sind 2 Schülerinnen und 1 Schüler, es gibt Tee für den, der möchte.

Es geht für jede*n Teilnehmer*in darum,  an seiner eigenen Geschichte weiter zu schreiben. Hier wird Raum gegeben, um sich schreibend auszudrücken, Freiraum, der in Schule eher selten zu finden ist, zu durchstrukturiert sind der Tagesablauf und die Unterrichtsinhalte. Da bleibt oft zuwenig Raum, um nach links oder rechts zu schauen. Hier in der Schreibwerkstatt gibt es nur auf Nachfrage Hilfestellung, ohne auf den Prozess des Schreibens selbst Einfluss zu nehmen.

Ich sitze da und überlege, was ich tun soll. Beobachten? Bei 3 Schüler*innen eher schwierig. Selber aktiv werden? Ich beginne zu schreiben.
Und das war meine Geschichte (unredigiert):

Theo, 14 Jahre, Albino, trägt immer eine Sonnenbrille, auch drinnen, sehr schlank, hat sieben Geschwister, ist der älteste, hat schwarzes Haar, gefärbt, trägt gerne Röcke, hat kein eigenes Zimmer, aber eine Hütte im Wald, die er selbst gebaut hat. Dorthin zieht er sich zurück, wenn er allein sein will. Theo gegen den Rest der Welt, Lieblingsfilm mit Marius Müller Westernhagen. Theos Lieblingsfächer sind Geschichte und Deutsch.
Er kann häkeln und stricken und bestickt die Röcke, die er trägt, mit selbsterfundenen Schriftzeichen. Seine Hütte hat er im Wald gefunden, wohl eine ehemalige Schutzhütte für Wanderer, eher ein Unterstand. Er hat dort weder Strom noch Heizung, die Fugen der Hütte hat er mit Erde und Lehm abgedichtet. Am liebsten möchte er seine Hütte gar nicht mehr verlassen. Manchmal sammelt er im Wald Beeren, und er hat auch schon Regenwürmer gegessen. Zunächst war es nur eine Mutprobe, als er etwa 8 Jahre alt war aber mittlerweile weiß er, dass Würmer besonders viele Proteine enthalten. Komisch ist nur das Gefühl, wenn sich der Regenwurm auf der Zunge bewegt und das zähe Moment, wenn er hineinbeißt und versucht, den Wurm in Stücke zu teilen. Das Runterschlucken ist dann nicht mehr schlimm.

Theo schreckt auf. Er hat draußen vor der Hütte ein Geräusch gehört. Niemand weiß von seinem Versteck hier. Es kann also kein Mensch sein, der um die Hütte streift. Theo hat eigentlich vor nichts Angst, aber hier hat ihn noch niemand aufgespürt. Er lauscht. Hier in der Hütte trägt er nur den Rock, den er mit schwarzen Zeichen bestickt hat. Sein Oberkörper ist frei. Er hört leichten Regen auf das Dach trommeln. Wieder das Geräusch. Was ist es? Ein Knurren? Rund um die Hütte hat er das alte Holz und Geäst entfernt. Das Geräusch kommt also aus dem Wald. Theo öffnet vorsichtig die Tür. Nichts. Er lauscht in den Regen. Auch die Gerüche kommen ihm jetzt intensiver vor. Als würden dadurch, dass er genauer hinhört, auch seine anderen Sinne geschärft. Er blickt zum Waldrand. Im Augenwinkel nimmt er eine Bewegung wahr und folgt mit den Augen. Etwas graues hat er gesehen. Kann das ein Wolf sein? Gibt es hier im Wald eine Kreatur, die ebenso einsam ist wie Theo und die das Alleinsein genauso schätzt wie er? Hat er einen möglichen Gefährten gefunden?

Theo will in den nächsten Tagen ein Stück Fleisch für den Wolf als Köder auslegen. Aber was fressen Wölfe eigentlich? Er beschließt am Abend, wenn er nachhause kommt, im Internet zu recherchieren.

Ich war überrascht, wie leicht es mir das Setting gemacht hat, einfach drauf los zu schreiben. Als Anleitung von Frank gab es lediglich ein kurzes Gespräch mit dem Schüler, in dem er ihm empfahl, sich den Haupt-Charakter seiner Geschichte besonders gut vorzustellen und ihn mit prägnanten Merkmalen auszustatten. Frank gab das Beispiel von seiner eigenen Geschichte, in der es ein sehr dickes Mädchen gab, die er mit allerlei unverwechselbaren Merkmalen „ausgestattet“ hatte.

Natürlich war es ein freiwilliges Angebot und die Schüler*innen von daher schon per se motiviert. Am Ende der Stunde packten wir unsere Sachen ein und gingen ohne weitere Besprechung der Arbeiten.

Franks nimmt mit seinen Teilnehmer*innen im übrigen regelmäßig am überregionalen OVAG Schreibwettbewerb teil:

http://www.ovag-gruppe.de/og/ovag-gruppe.nsf/c/Engagement,Schule_&_Jugend,Jugend-Literaturpreis

Zum Abschluss noch eine Galerie der „künstlerischen Spuren“, die ich im Gymnasium Nidda gefunden habe.

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