Ed Atkins „Corpsing“ MMK1 in Frankfurt

‘If you had to pick one artist currently having a profound impact on his contemporaries, you would have to choose Ed Atkins… He programmes almost all his computer animation himself and writes exceptional stream-of consciousness poetry that feeds into his works.’
Francesca Gavin, Dazed and Confused

Wie kann Kunst im post-digitalen Zeitalter aussehen? Diese Frage stellt Ed Atkins in der Ausstellung Corpsing im MMK 1 in Frankfurt am Main in umfassender und teilweise verstörender, dabei aber stilistisch ausgereifter Weise.

Wikipedia definiert Corpsing folgendermaßen: Corpsing is British theatrical slang for unintentionally breaking character by laughing. In North American TV and film, this is commonly referred to as breaking, and it is generally categorized as a blooper. The origin of the term corpsing itself is unclear, but may come from (provoking an actor into) breaking character by laughing while portraying a corpse. As the name suggests, many examples of corpsing have been created from actors performing this role or related roles, such as a sleeping or unconscious character.

Der Ausstellungstitel „Corpsing“ thematisiert den Widerspruch, den eine computergenerierte Simulation in sich trägt. Sie vermittelt die Illusion einer eigenständigen materiellen Welt und bleibt doch nur eine Konstruktion, die durch Momente der technischen Störung als Trugbild und bloße Abbildung des Realen decodiert werden kann. Der Begriff „Corpsing“ bezieht sich auf eine Redewendung aus dem Bereich des Theaters und auf ein Phänomen, mit dem sich Atkins seit langer Zeit beschäftigt. Eine von einem Schauspieler gespielte Rolle erreicht nie den Status einer authentischen Figur, sie kann diese immer nur „verkörpern“. „Corpsing“ beschreibt jenen Augenblick, in dem die Differenz zwischen dem Schauspieler und seiner Rolle zutage tritt, wenn dieser beispielweise seinen Text vergisst oder in plötzliches Gelächter ausbricht. Der Schauspieler Identifiaktion soll aufgehoben werden, amn versucht den Schauspieler aus seiner Rolle herauszulocken.

Was hat das alles mit mir als Betrachter zu tun? Wie schafft es Atkins obwohl er einen erkennbar computergenerierten Menschen zeigt, tiefe Gefühle in uns anzurühren, die beunruhigend authentisch sind?

Der Ausstellungsfilm, in dem das MMK die Ausstellung ankündigt, präsentiert einen überaus sympathischen und offenen Künstler:

Atkins gilt als Pionier und radikalster Vertreter einer jungen Künstlergeneration, welche die fundamentalen Veränderungen der Bild- und Selbstwahrnehmung des Menschen durch die rasante Entwicklung der digitalen Medien kritisch reflektiert. In seinen filmischen, digital generierten Werken erschafft er eine künstliche und hyperreale Bildwelt, die in ihrer Ambivalenz von perfekter Simulation und scheinbar technischer Unzulänglichkeit zutiefst verstörend wirkt. Das Werk von Ed Atkins trifft den wesentlichen und zugleich wunden Punkt der postdigitalen Gegenwart. Wie kein anderer Künstler seiner Generation erfasst er die Problematik unseres durch die digitalen Medien veränderten Selbstbewusstseins, das durch die Illusion von Grenzenlosigkeit einerseits und den Verlust von Authentizität andererseits geprägt ist. In ihrer visuellen und akustischen Intensität ziehen seine digital erzeugten High-Definition Bildwelten den Betrachter in ihren Bann und konfrontieren ihn mit existenziellen Zuständen wie Einsamkeit, Entfremdung und Vergänglichkeit.


Hisser, Ausstellungsansicht im MMK 1

Das MMK präsentiert in der Ausstellung zwei filmische Installationen, die sich über mehrere Räume erstrecken. Für diese kreiert Atkins einen virtuellen Protagonisten – eine Art Alter Ego des Künstlers –, dessen Profil er kontinuierlich weiterentwickelt und der in künstlichen Welten tiefgreifende Krisen durchlebt. Jede Stimme, die zu hören ist, sowie sämtliche Texte stammen von Atkins selbst. Ebenso hat er alle seine Bildwelten mit den zur Verfügung stehenden digitalen Mitteln selbst generiert. Die Geschichte, die in „Hisser“ erzählt wird, ist inspiriert von einer wahren Begebenheit. In einer sich plötzlich öffnenden Senkgrube wurde 2013 ein junger Mann in Florida in den USA, in seinem Schlafzimmer „vom Erdboden verschluckt“. Der Hauptschauplatz im Film ist ein Schlafzimmer bei Nacht. Atkins führt vor, wie die Welt seines Protagonisten in sich kollabiert und in der absoluten Leere des digitalen und entmaterialisierten Raums verschwindet. Dabei dekonstruiert der Künstler die digitale Illusion, indem er seine filmischen Mittel durch simulierte Bildstörungen und Frequenzfehler offenlegt.*

In dieser Arbeit benutzt Atkins, das Mittel der Vervielfältigung, in dem er über mehrere Räume auf große Leinwände verteilt denselben Film zeigt, der aber ebenfalls zu einem unterschiedlichen Zeitpunkt abläuft. Atkins erreicht hier die Aufhebung von unseren normalen Sehgewohnheiten, wir wissen zwar, es folgt eine Geschichte, aber wir verstehen die Abfolge nicht. Das Überraschungsmoment, das die bekannte narrative Struktur durchbricht, verunsichert wohl besonders jene, die an eine Geschichte mit Anfang und Ende gewohnt sind, will sagen die digital immigrants. Natürlich spielt Atkins hier mit unseren Erwartungen an eine große Leinwand, wir sind kinoerprobt, doch er konterkariert diese ästhetisch gelernte Wahrnehmung, um uns das Gefühl der Sicherheit zu nehmen. Wir sind allein, wie der Mann, den wir beobachten. Wir sind Voyeure. Wir wissen nicht, was passieren wird. Wir sind den Bildern an dieser Stelle einfach ausgeliefert. Außer wir drehen uns um und schauen weg.

Safe Conduct, Ausstellungsansicht im MMK 1

In der Arbeit „Safe Conduct“, die auf drei großformatigen LCD-Monitoren bei Tageslicht gezeigt wird, erkennt man denselben Protagonisten, der sich in diesem Film am Fließband einer Sicherheitskontrolle befindet. Schritt für Schritt entledigt sich der junge Mann seiner Reiseutensilien und Bekleidung, bis er schließlich dazu übergeht auch seine Körperteile in die Aufbewahrungsbox zu legen. Wie in „Hisser“ ist das Gesicht des Protagonisten wund und impliziert körperliche und seelische Verletztheit, wodurch die Illusion von Menschsein entsteht.*

Atkins beschreibt diese Arbeit als Reflektion seiner selbst, da er sich durch das ständige Reisen im Dienste der Kunst permanent auf Flughäfen wiederfindet. Der Flughafen als Transitort, der gleichzeitig ein Ort von Heimat darstellt, dessen Erscheinungsbild sich verwandeln kann und wo sich der Reisende in manchen Momenten fragt, was hinter der Fassade der reibungslosen Routine lauert. Der Flughafen als unsicherer Ort und Ort existenzieller Bedrohung, an dem gleichzeitig existentielle Bedürfnisse verhandelt, befriedigt und ausgetauscht werden, wo es um Liebe und Tod gehen kann. Atkins benutzt in Safe Conduct mit der Musik von Ravels Bolero eine musikalischer Untermalung, die das Routinehafte der Bilder ins Dramatische steigert und dabei gleichzeitig das Crescendo der Bilder (Körperteile werden in die Sicherheitsschalen geworfen, Blut, Kot, Pistolen) gerade aufgrund der sehr langsamen und monotonen Steigerung gleichsam beruhigt und den Betrachter in einer Art Schockstarre hält. Man kann nicht glauben, was man sieht und kann gleichzeitig nicht wegsehen. Bilder und Musik zusammen haben hypnotische Wirkung auf den Betrachter. Dazu kommt noch der Aufbau der Videoinstallation, drei Bildschirme sind in der großen Halle des MMK 1 im ersten Stock an einen Kran montiert und laufen mit unterschiedlichen Bildfolgen ab, so dass der Betrachter immer in Gefahr ist, etwas zu verpassen. In diesem Raum befindet man sich in existentieller Bedrohung und gleichzeitig in totaler Faszination, so als würde man einem besonders grausamen Geschehen folgen. Diese Kunst hat in existenzieller Art und Weise mit uns zu tun.

Ein Interview mit Channel 4 in London, in dem man Ed Atkins in seinem Atelier in London sieht und er seinen Arbeitsprozess anhand von Ribbons erklärt.


Ed Atkins (*1982 in Oxford, GB) wuchs im beschaulichen Oxford auf, mit einer Kunstlehrerin als Mutter und einem Grafik-Designer als Vater, der ihn früh mit bildender Kunst vertraut machte. Atkins studierte zunächst an der Central St. Martins, wo er seinen Bachelor absolvierte, der Masterabschluß erfolgte 2009 an der Slade School of Art, beides London. Seitdem nimmt er sehr erfolgreich an internationalen Ausstellungen teil und ist im Bereich der bildenden Kunst, die sich mit der Digitalisierung und der Auswirkung auf den Menschen beschäftigt,  als einer der wichtigsten Vertreter anzusehen.

Im Rahmen der „Frankfurter Positionen“ war Ed Atkins im Wintersemester 2016/2017 ein halbes Jahr lang Gastprofessor an der Staatlichen Hochschule für Bildende Künste „Städelschule“. Gemeinsam mit den Studierenden erarbeitete er dort ein eigenständiges Format zum Thema der Ausstellung, welches er bei der Nacht der Museen performte.

* courtesy of www.studiointernational.com
** Kursive Texte sind dem Ausstellungstext „Corpsing“ des MMK entnommen.

Print Friendly, PDF & Email